Kiel, Folkers Hôtel
30. Juli 89.
Verehrte Freundin,Mathilde von Humboldt (1830–1897) war die Enkelin von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und Caroline, geb. von Dachroeden (1766–1829), deren Sohn Theodor von Humboldt (von Humboldt-Dachroeden) (1797–1871) 1818 Mathilde von Heineken (1800–1881) geheiratet hatte. Ihr Sohn Wilhelm (*1823), Mathilde von Humboldts älterer Bruder, war 1867 gestorben; er hatte seiner Witwe Hermine, geb. von Werder (1830–1903) drei Söhne und eine Tochter hinterlassen, mit der Mathilde von Humboldt auf dem Familienbesitz im schlesischen Ottmachau zusammenwohnte. Ende 1870 bis Ende Mai 1871 hatte sich Mathilde von Humboldt nach einer gescheiterten Verlobung (wohl erstmals) in Rom aufgehalten, wo sie im Kreise deutscher Künstler auch Gregorovius kennengelernt hatte. Aus gegenseitigem Respekt entwickelte sich bald ein freundschaftliches Verhältnis, das auch Gregorovius’ Halbschwester Ottilie Elgnowski (1834–1907) einschloss. Auch persönlich begegneten sich Mathilde von Humboldt und Gregorovius ab dem Herbst 1875 – bei einem Besuch in der kurz zuvor von Gregorovius mit seinen Geschwistern angemieteten Münchener Wohnung – zunehmend regelmäßig. Als 1878 in Ottmachau ein größeres Konvolut von Briefen Alexanders von Humboldt (1769–1859) an seinen Bruder Wilhelm gefunden wurde, veranlasste Gregorovius sie, diese zu veröffentlichen. Dieser Publikation „Briefe Alexander’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm“ (hrsg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau. Stuttgart: Cotta 1880) stellte Gregorovius einen umfänglichen Essay „Geschichtliche Übersicht ihres Lebensganges bis zum Jahr 1835“ voran, der implizit den Charakter seiner eigenen Schriften spiegelt. Er ging unter dem Titel „Die Brüder von Humboldt“ in den zweiten Band seiner „Kleinen Schriften zur Geschichte und Cultur“ ein (Leipzig: Brockhaus 1888. S. 125–194). Nach dem Tod ihrer Mutter, mit der Mathilde von Humboldt in Ottmachau zusammengelebt hatte, unternahm sie im November 1881 eine längere Reise nach Rom, wo sie künftig die Wintermonate verbrachte und ein reges gesellschaftliches Leben pflegte. Hier traf sie auch Gregorovius regelmäßig wieder. Der Kontakt wurde über einen regen Briefwechsel sowie über gemeinsame Freunde bis zum Tode von Gregorovius aufrecht erhalten. Von ihrer Korrespondenz haben sich 128 Briefe von Mathilde von Humboldt an Gregorovius erhalten. Über den Verbleib der Gegenbriefe, die Gregorovius seiner Halbschwester Ottilie Elgnowski zu vermachen beabsichtigte, ist nichts bekannt.
Ihre liebenswürdigen Briefe habe ich erhalten, und so eben wollte ich Ihnen schreiben, als Ihre Postkarte ankam.
Wir sind, wie Ihnen vielleicht meine Schwester unterdeß gemeldet hat,Mathilde von Humboldt war auch mit Gregorovius’ Halbschwester Ottilie Elgnowski (1834–1907) eng befreundet und korrespondierte regelmäßig mit ihr. seit dem 3. Juli auf Reisen, teils zusammen, teils streckenweise uns trennend, und hier wieder seit etwa 8 Tagen vereinigt. Unsre Reiselinie war bisher Rotenburg auf der Tauber, Cassel, Hannover, Bremen, Hamburg (wo wir 10 gute Tage verlebten), und Kiel.Siehe RT, 1889, S. 431–432. Alle diese Städte kennen Sie zur Genüge. Am 1. August fahren wir über Korsör nach Kopenhagen, zu Hamlet dem Dänen,Der Prinz von Dänemark, die Titelfigur aus William Shakespeares (1564–1616) Tragödie. mit | 1veinem Tourbillet, so daß wir für die Capitale der Dänen 5 Tage haben werden, was vollkommen genügt.Gregorovius besuchte mit seinen Geschwistern vom 1. bis 5. August 1889 Kopenhagen, Helsingör und Helsingborg. Von Kopenhagen gehen wir nach Lübeck. Die Meinigen wollen von dort nach Berlin; ich aber werde mir das ersparen, und einen Abstecher nach Beichlingen machen in Thüringen, um die Gräfin Werthern zu besuchen, endlich langsam nach München zurückkehren.Vom 10. bis 16. August 1889 war Gregorovius dann doch mit seinen Geschwistern in Berlin in einer Pension in der Dorotheenstraße, machte dann einen zweitägigen Besuch auf dem thüringischen Anwesen bei Gertrud (1841–1919) und Georg von Werthern-Beichlingen (1816–1895), bevor er über Erfurt und Leipzig reisend zu einer vorgezogenen Feier des 70. Geburtstags (23.8.) seines Bruders Julius am 21. August erneut nach Berlin kam, um am Nachmittag des folgenden Tags mit dem Zug über Halle und Nürnberg alleine nach München zurückzukehren (siehe RT, 1889, S. 431–432). Ich bin des Herumvagabondirens’ satt geworden; auch ist die Luft rauh und regnerisch. Nach meinen langen und angestrengten Arbeiten an meinem letzten Werk von einiger Bedeutung bedurfte ich der Erholung;Gregorovius war nach dem Erscheinen seiner zweibändigen „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ im Juni 1889 (Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger) aus München aufgebrochen. | 2rallein dies Einhertaumeln von Gasthaus zu Gasthaus ist doch keine Erholung; auch zog ich mir auf 1 Elbefahrt in Hamburg 1 heftige Erkältung zu, so daß mein Augenkathar wieder in der schönsten Blüte steht. An allem merke ich, daß ich auf der schiefen Ebene des Lebens rapid abwärts mich bewege, und das ist bei meinen Jahren naturgemäß. Glücklicher Weise hat der Bruder die Strapazen der Reise bisher ganz vortrefflich ausgehalten.
Aus den Daten, die ich Ihnen gegeben habe, werden Sie ersehen, daß ich leider nicht in München sein werde, wenn Frau von Heinz mit ihrer Tochter dort sindist.Die verwitwete Constanze von Heinz, geb. von Bülow (1832–1920) und ihre noch unverheiratete Tochter Anna (1863–1953). Sie war die Cousine Mathilde von Humboldts, die Schloss Tegel geerbt hatte (beide wurden im Brief von Gregorovius an Mathilde von Humboldt vom 6.8.1886 erstmals erwähnt). Über ihren Aufenthalt in München ist nichts zu ermitteln. Ich bitte diesen liebenswürdigen Damen mein Bedauern darüber auszusprechen.
Von Italien kam mir die | 2vNachricht, daß einer meiner ältesten Freunde dort, der Geschichtschreiber Michele Amari plötzlich gestorben ist.Der aus Palermo gebürtige Orientalist und Politiker Michele Amari (*1806) war am 16. Juli 1889 in Florenz gestorben. Gregorovius war seit den frühen 1860er Jahren eng mit ihm befreundet (siehe RT, 17.9.1861, S. 137 und den Brief von Gregorovius an Theodor Heyse vom 17.9.1855). Amari war eine zentrale Persönlichkeit des Risorgimento. Er war nach seiner Rückkehr aus dem Pariser Exil Professor am Lehrstuhl für arabische Sprache in Pisa und Florenz sowie Mitglied zahlreicher Akademien. Bis zu seinem Tod hatte er hohe öffentliche Ämter inne, u. a. war er 1861 Senator, 1862 bis 1864 Unterrichtsminister und Vorsitzender des Consiglio Superiore degli Archivi (siehe den Nachruf von Oreste Tommasini: La vita e le opere di Michele Amari. In: Atti della R. Accademia dei Lincei. Jg. 286. Ser. 4: Classe di scienze morali, storiche e filologiche. Bd. 6. Rom 1889. S. 340–376). Die junge Acton, welche sich in den Tegernsee stürzte,Die als so begabt wie schön und schwermütig geltende Mathilde Freifrau von Acton, geb. Freifrau von Gablenz-Eskeles (*1859) hatte sich am 12. Juli 1889 während einer Bootsfahrt auf dem Tegernsee das Leben genommen (siehe auch RT, S. 428), während sie zu Besuch bei Sophie Gräfin Drechsel von Deufstetten, geb. Gräfin von Martins d’Almeida (1849–1935) und ihrem Mann, dem Münchner Rittmeister Maximilian Graf von Drechsel (1844–1918), war. Auch ihr Vater, der österreichische General Ludwig Freiherr von Gablenz (1814–1874), hatte Suizid begangen. Sie hatte mit ihrer verwitweten Mutter Helene Freifrau von Gablenz, geb. Freifrau von Eskeles (1837–1899) in Venedig gelebt, wo beide engen Umgang mit Cosima (1837–1930) und Richard Wagner (1813–1883) hatten. war durch ihren Mann mit der Donna Laura Minghetti verwandt;Mathilde Freifrau von Acton war die Witwe des Marinekapitäns Gustavo Acton (1838–1880), den sie 1877 in Venedig geheiratet hatte. Er war der Bruder von Laura Minghetti, geb. Acton, verw. Beccadelli dei Principi di Camporeale (1829–1915), die 1864 in Rom den inzwischen ebenfalls verstorbenen zweimaligen italienischen Ministerpräsidenten Marco Minghetti (1818–1886) geheiratet hatte. Beide waren enge Freunde von Gregorovius. ich kannte sie von Rom und Venedig her;An Mathilde Acton oder ihre Mutter Helene von Gablenz hat sich ein Brief von Gregorovius vom 25. April 1887 aus Venedig erhalten, in dem er für die langjährige Treue und den freundschaftlichen Umgang in Venedig gedankt hatte und hoffte, sie in München oder Rom wiederzusehen (SBB – PK, Slg. Autogr., Gregorovius. Ferdinand, Bl. 1–2). sie war schön und zart, wie Miranda aus Shakespeare’s Sturm.Die zartfühlende, gutgläubige Miranda ist in William Shakespeares „The Tempest“ (1611) die Tochter des Zauberers Prospero, des rechtmäßigen Herzogs von Mailand, der sich mit ihr und dem Sklaven Caliban auf eine einsame Insel retten muss.
Ihr GeburtsfestAm 8. August 1889 wurde Mathilde von Humboldt 59 Jahre alt. werden wir wahrscheinlich in Lübeck feiern,Nach ihrem Aufenthalt in Dänemark fuhren die Geschwister über Eutin reisend nach Lübeck – wo Gregorovius Kurt von Schlözer (1822–1894) traf (siehe RT, 1889, S. 431). und das mit Empfindungen treuer Freundschaft und mit den herzlichsten Wünschen Ihres Glückes und Woles in noch so viel andern Jahren, als Sie zu leben wünschen.
Die Schwester wird Ihnen sicher noch dazu schreiben.
Eben heult in meiner Nähe ein Torpedoboot. Ich besah die hiesige kaiserliche Werft,Die 1867 eröffnete Kaiserliche Werft in Kiel war neben Danzig und Wilhelmshaven die Produktionsstätte der Kriegsschiffe des Deutschen Kaiserreichs. und bekam ein Graun vor der raffinirt boshaften Erfindungskraft der zweizinkigen Bestie, Mensch genannt.
Viele Grüße an Fräulein Resi, die bei Ihnen ist.Resi Moser, die Pflegetochter von Gregorovius’ am 18. September 1888 in Leipzig verstorbener Freundin Elisabeth Seeburg (*1817). Siehe hierzu auch die Briefe von Gregorovius an Elisabeth Seeburg vom 17. April 1887 und an Mathilde von Humboldt vom 30. Juli 1889. So um den 20. August hoffe ich wieder in München zu sein.
In alter Freundschaft ergeben
FGr.
Die Spuren der Trinität Dräseke-Nyvenheim habe ich ganz verloren.Die Schwestern Amalie (1816–1890) und Pauline von Neukirchen, genannt van Nyvenheim (1823 oder 1826–1906) verbrachten mit Therese Draeseke (1820–1893) immer wieder ausgedehnte Auslandsaufenthalte, häufig in Italien (siehe zuletzt den Brief von Gregorovius an Mathilde von Humboldt vom 27.1.1889). Amalie von Neukirchen starb am 12. Juli 1890 in Wiesbaden. Im August 1890 besuchte Gregorovius die beiden verbliebenen Freundinnen dort (siehe den Brief von Gregorovius an Mathilde von Humboldt vom 12.10.1890). Sie waren zuletzt in Heidelberg.