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Gesamtdatenbank
der Korrespondenz
Hrsg. Angela Steinsiek
Ferdinand Gregorovius an Mathilde von Humboldt in Rom
Kiel, 30. Juli 1889


DE
Seine Halbschwester Ottilie Elgnowski wird ihr geschrieben haben, dass sie seit dem 3. Juli 1889 zusammen mit dem Bruder Julius auf Reisen sind – streckenweise trennten sie sich, reisen aber seit acht Tagen wieder gemeinsam. Vor ihrer Ankunft in Kiel waren sie in Rothenburg ob der Tauber, Kassel, Hannover, Bremen und für zehn Tage in Hamburg. Am 1. August fahren sie nach Dänemark, um mit einem Rundreise-Billett Körsör und Kopenhagen zu besuchen. Anschließend steht Lübeck auf dem Programm. Ottilie Elgnowski und sein Bruder Julius wollen nach Berlin, er selbst plant, vor seiner Rückkehr nach München in Beichlingen Gertrud und Georg von Werthern-Beichlingen zu besuchen. Er wollte sich nach der jahrelangen Arbeit an seiner „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (1889) erholen, doch der ständige Ortswechsel strengt ihn an – zudem hat er sich auf einer Fahrt auf der Elbe erkältet, während der Bruder Julius recht wohl ist. Wenn Constanze von Heinz mit ihrer Tochter nach München kommt, wird er leider noch nicht zurück sein. Aus Italien wurde ihm der Tod Michele Amaris gemeldet. Mathilde Acton hat sich im Tegernsee das Leben genommen. Er kannte sie aus Rom und Venedig; ihr verstorbener Mann Gustavo war der Bruder von Laura Minghetti. Zu Mathilde von Humboldts Geburtstag am 8. August wird er mit seinen Geschwistern vermutlich in Lübeck sein. Er hat die kaiserliche Werft besichtigt, die Kriegsschiffe flößten ihm Angst vor der menschlichen Erfindungskraft ein. Grüße an Resi Moser. Therese Draeseke, Amalie von Neukirchen, genannt van Nyvenheim, und ihre Schwester Pauline hat er aus den Augen verloren; zuletzt waren sie in Heidelberg.

EN
His half-sister Ottilie Elgnowski will have written her to say that they have been traveling together with their brother Julius since July 3rd, 1889, – they have separated at times, but have been traveling together again for eight days. Before arriving in Kiel, they were in Rothenburg ob der Tauber, Kassel, Hanover, Bremen and in Hamburg for ten days. On August 1st, they will travel to Denmark to visit Körsör and Copenhagen with a round-trip ticket. Then the plan is to go to Lübeck. Ottilie Elgnowski and his brother Julius want to go to Berlin, he himself plans to visit Gertrud and Georg von Werthern-Beichlingen in Beichlingen before returning to Munich. He wanted to recover after years of work on his „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (1889), but the constant change of location is strenuous for him – also, he caught a cold on a trip on the Elbe, while his brother Julius is quite well. Unfortunately, he will not be back in Munich, when Constanze von Heinz comes to visit with her daughter. He learned of the death of Michele Amari from reports from Italy. Mathilde Acton took her own life in Lake Tegernsee. He knew her from Rome and Venice; her late husband Gustavo was the brother of Laura Minghetti. He will probably be in Lübeck with his siblings on Mathilde von Humboldt’s birthday on August 8th. He visited the imperial shipyard, the warships instilled a fear of the human ingenuity in him. Greetings to Resi Moser. He lost touch with Therese Draeseke, Amalie von Neukirchen, called van Nyvenheim, and her sister Pauline; most recently they were in Heidelberg.
| 1r

Kiel, Folkers Hôtel
30. Juli 89.

Verehrte Freundin,

Ihre liebenswürdigen Briefe habe ich erhalten, und so eben wollte ich Ihnen schreiben, als Ihre Postkarte ankam.

Wir sind, wie Ihnen vielleicht meine Schwester unterdeß gemeldet hat, seit dem 3. Juli auf Reisen, teils zusammen, teils streckenweise uns trennend, und hier wieder seit etwa 8 Tagen vereinigt. Unsre Reiselinie war bisher Rotenburg auf der Tauber, Cassel, Hannover, Bremen, Hamburg (wo wir 10 gute Tage verlebten), und Kiel. Alle diese Städte kennen Sie zur Genüge. Am 1. August fahren wir über Korsör nach Kopenhagen, zu Hamlet dem Dänen, mit | 1veinem Tourbillet, so daß wir für die Capitale der Dänen 5 Tage haben werden, was vollkommen genügt. Von Kopenhagen gehen wir nach Lübeck. Die Meinigen wollen von dort nach Berlin; ich aber werde mir das ersparen, und einen Abstecher nach Beichlingen machen in Thüringen, um die Gräfin Werthern zu besuchen, endlich langsam nach München zurückkehren. Ich bin des Herumvagabondirens’ satt geworden; auch ist die Luft rauh und regnerisch. Nach meinen langen und angestrengten Arbeiten an meinem letzten Werk von einiger Bedeutung bedurfte ich der Erholung; | 2rallein dies Einhertaumeln von Gasthaus zu Gasthaus ist doch keine Erholung; auch zog ich mir auf 1 Elbefahrt in Hamburg 1 heftige Erkältung zu, so daß mein Augenkathar wieder in der schönsten Blüte steht. An allem merke ich, daß ich auf der schiefen Ebene des Lebens rapid abwärts mich bewege, und das ist bei meinen Jahren naturgemäß. Glücklicher Weise hat der Bruder die Strapazen der Reise bisher ganz vortrefflich ausgehalten.

Aus den Daten, die ich Ihnen gegeben habe, werden Sie ersehen, daß ich leider nicht in München sein werde, wenn Frau von Heinz mit ihrer Tochter dort sindist. Ich bitte diesen liebenswürdigen Damen mein Bedauern darüber auszusprechen.

Von Italien kam mir die | 2vNachricht, daß einer meiner ältesten Freunde dort, der Geschichtschreiber Michele Amari plötzlich gestorben ist. Die junge Acton, welche sich in den Tegernsee stürzte, war durch ihren Mann mit der Donna Laura Minghetti verwandt; ich kannte sie von Rom und Venedig her; sie war schön und zart, wie Miranda aus Shakespeare’s Sturm.

Ihr Geburtsfest werden wir wahrscheinlich in Lübeck feiern, und das mit Empfindungen treuer Freundschaft und mit den herzlichsten Wünschen Ihres Glückes und Woles in noch so viel andern Jahren, als Sie zu leben wünschen.

Die Schwester wird Ihnen sicher noch dazu schreiben.

Eben heult in meiner Nähe ein Torpedoboot. Ich besah die hiesige kaiserliche Werft, und bekam ein Graun vor der raffinirt boshaften Erfindungskraft der zweizinkigen Bestie, Mensch genannt.

Viele Grüße an Fräulein Resi, die bei Ihnen ist. So um den 20. August hoffe ich wieder in München zu sein.

In alter Freundschaft ergeben

FGr.

Die Spuren der Trinität Dräseke-Nyvenheim habe ich ganz verloren. Sie waren zuletzt in Heidelberg.

Zitierhinweis: Ferdinand Gregorovius an Mathilde von Humboldt in Rom. Kiel, 30. Juli 1889. In: Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition). Hrsg. von Angela Steinsiek. Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023. URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/ed_vh1_ndr_5wb