München, 6. Januar 1889
Sehr geehrter Herr,Der aus dem Soultz-sous-Forêts bei Mulhouse stammende Kunst- und Kulturhistoriker Eugène Müntz (1845–1902) hatte in Paris Jura studiert, sich aber bald der Kunst, der Geschichte und den alten Sprachen gewidmet. 1873 kam er nach Rom, wo er einer der ersten Schüler von Albert Dumont (1842–1884) an der als Partnerinstitut der archäologischen École française d’Athènes gegründeten École française de Rome wurde. In den Archiven und der Bibliothek des Vatikans und aus eigener Anschauung eignete er sich eine umfassende Kenntnis italienischer Kunst und Architektur an. Gestützt auf historische Quellen fand er mit seiner ersten großen Studie über die Rolle der Päpste bei der Förderung der Kunst in der Renaissance sein Lebensthema, die italienische Renaissance im kulturellen Kontext (Eugène Müntz: Les arts à la cour des Papes pendant le XVe et le XVIe siècle. Recueil de documents inédits tirés des archives et des bibliothèques romaines. 3 Bde. Paris: Ernest Thorin 1878–1882; Reprint 1983). Von seinen zahlreichen Schriften sind die zur Biographie und Rezeption Raffaels (Raphael. Sa vie, son ouvre et son temps. Paris: Hachette 1881 und Les historiens et les critiques de Raphael 1483–1883. Essai bibliographique pour servir d’appendice à l’ouvrage de Passavant; avec un choix de documents inédits ou peu connus. Paris: Librairie de l’Art Rouam [u. a.] 1883) sowie seine Biographie Leonardo da Vincis (Léonard de Vinci, l’artiste, le penseur, le savant. Ouvrage contenant 238 reproductions dans le texte, 20 planches en taille-douce et 28 planches en couleur ou en noir. Paris: Hachette 1899) noch heute bekannt. Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt und verschafften Müntz internationale Anerkennung. In Frankreich wurde sein Handbuch zur italienischen Kunst der Renaissance zu einem populären Standardwerk (Histoire de l’art en Italie pendant la Renaissance. 3 Bde.: Les Primitifs – L’Age d’Or – La Fin de la Renaissance. Paris: Hachette 1889–1895). Daneben veröffentlichte er Studien zur römischen, frühchristlichen und zeitgenössischen Kunst, über die Medici-Sammlungen und die Päpste in Avignon. Seit 1876 war Müntz Bibliothekar und Archivverwalter der Ecole des Beaux-Arts in Paris. 1885 bis 1893 hatte er zudem dort als Nachfolger von Hippolyte Taine (1828–1893), dessen Positivismus er ablehnte, den Lehrstuhl für Ästhetik inne. 1888 wurde Müntz auswärtiges Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1893 Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres. Gregorovius wird Eugène Müntz schon in Rom kennengelernt haben, wenngleich über ihre persönliche Begegnung nichts bekannt ist. Für die vierte Auflage seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (8 Bde. Stuttgart: Cotta 1886–1896) zog Gregorovius dessen Schriften heran, u. a. die „Études sur l’Histoire des arts à Rome pendant le moyen-âge. Boniface VIII et Giotto“ (Rom 1881 – siehe die Briefe von Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli vom 21.12.1881 und an Henry Stevenson von vor dem 9.4.1883) und ließ ihm im Juni 1889 durch den Verlag ein Exemplar seiner „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ (2 Bde. Stuttgart: Cotta Nachfolger 1889) schicken (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 472). Neben dem vorliegenden Schreiben sind von ihrem Briefwechsel in der Bibliothèque nationale de France (in der in 38 Bänden geordneten Korrespondenz von Müntz) zwölf Briefe von Gregorovius an Müntz aus den Jahren 1885 bis 1889 erhalten. Sie zeugen von ihrer gegenseitigen fachlichen und bald auch persönlichen Wertschätzung. Müntz schickte Gregorovius regelmäßig seine Schriften, die der mehr als zwanzig Jahre Ältere mit großem Interesse zur Kenntnis nahm. Gregorovius war es auch, der Müntz 1888 zur Aufnahme als korrespondierendes Mitglied in die Historische Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vorschlug. Und Müntz bemühte sich 1889 um eine französische Übersetzung der vierten Auflage der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“. Aus welcher Quelle der erste (2023 von Stargardt versteigerte) Brief vom 13. Dezember 1877 stammt, ist nicht bekannt. Zeitlich liegt er weit vor den in der Correspondance d’Eugène Müntz in Paris aufbewahrten Briefen von Gregorovius. Dass dieser Bestand nicht vollständig ist, geht auch aus einem anderen Schreiben von Gregorovius hervor: An Vincenzo Bindi schrieb Gregorovius am 5. Mai 1889, dass er sich an Müntz in Paris gewandt habe – der Brief ist nicht nachweisbar.
ich danke Ihnen verbindlich für Ihre freundlichen Wünsche zum Neuen Jahre, welche ich eben so warm erwidere. Möchte das neue Jahr für uns nichts Feindliches mit sich bringen, was die ruhige Fortsetzung unserer Arbeiten stören könnte.
Ich sehe mit Bedauern, daß Ihr Brief Herrn Mourier nicht erreicht hat; doch liegt an der Erledigung der georgischen Frage nicht so sehr viel.Gregorovius hatte Müntz gebeten, an Jules Mourier (*1846) zu schreiben, um ihn zu fragen, wie dieser in seinem Aufsatz „Chota Rousthavéli. Poète géorgien du XIIe siècle. Sa vie et son œuvre“ (in Journal asiatique. Ser. 8. Bd. 9. Paris 1887. S. 520–530) darauf gekommen war, dass der georgische Dichter Schota Rustaweli (ca. 1172 bis ca. 1216) in Athen studiert habe (siehe den Brief von Gregorovius an Müntz vom 14.10.1888). Das Antwortschreiben von Jules Mourier aus Tiflis vom 19. Dezember 1888, in dem dieser einräumt, dass dies auf eine Verwechslung zurückgehen könne, hat sich im Nachlass von Gregorovius erhalten (BSB München, Gregoroviusiana 21, Mourier, Jules).
Sie bemühen sich in Güte für die Anbahnung einer französischen Übersetzung der | 1vGeschichte der Stadt Rom.Siehe den Brief von Gregorovius an Eugène Müntz vom 1. Februar 1887. Das ist so erfreulich, wie wichtig für mich. Auch ich habe die Erfahrung gemacht, daß Übersetzungen dem Autor nichts oder wenig eintragen; demnach würden meine Forderungen nur sehr mäßige sein. Die Fortsetzung der 4ten édition ist dadurch aufgehalten worden, daß die Käufer des Werks eben auf diese warteten.Die vierte Auflage des ersten Bandes von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ war 1886 bei Cotta in Stuttgart erschienen. Die Auflage wurde mit dem achten Band erst posthum, aber noch vom ihm selbst revidiert, im Jahr 1896 abgeschlossen.
Indeß ist die Sache jetzt wieder in Fluß gekommen; der 2te Band wird bald zum Druck kommen in 4ter Edition, und der 3te ist auch nicht mehr weit davon entfernt.Der zweite Band folgte im Juli 1889, der dritte Band im April 1890. So wird es gut sein mit einer möglichen französischen Übersetzung noch zu warten.Nach dem letzten erhaltenen Brief von Gregorovius an Müntz vom 28. Juli 1889 war der belgische Verleger Albert Lacroix (1834–1903) – der erste Verleger der Brüder Edmond (1822–1896) und Jules de Goncourt (1830–1870) und Émile Zolas (1840–1902) – bereit, eine französische Übersetzung der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ zu drucken, die er „versuchsweise mit dem letzten Band des Werks“ beginnen wolle (Bibliothèque nationale de France, Département des Manuscrits occidentaux, Correspondance d’Eugène Müntz, NAF 11295, XVIII Godillot–Guyard, 237). Eine französische Übersetzung von Gregorovius’ Hauptwerk kam bis heute nicht zustande. – Ich machte im | 2rvorigen Jahre schlechte Erfahrungen in Paris. Madame Psichari hatte meinen Hadrian übersetzt,Noëmi Psichari-Renan (1862–1943), die Frau des französisch-griechischen Schriftstellers und Philologen Ioánnis Psycháris (1854–1929), hatte die französische Übersetzung von Gregorovius’ „Der Kaiser Hadrian. Gemälde der römisch-hellenistischen Welt zu seiner Zeit“ (Stuttgart: Cotta 1884) besorgt (siehe hierzu auch den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 22.12.1884). Nach dem Schreiben von Gregorovius an Robert Davidsohn vom 11. März 1886 war die Übersetzung zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und Gregorovius hatte „noch in Eile Zusätze“ gemacht (siehe in Johannes Hönig: Der Geschichtschreiber der Stadt Rom an den Geschichtschreiber von Florenz. Briefe von Ferdinand Gregorovius an Robert Davidsohn. In: Deutsche Rundschau. Bd. 196. Berlin 1923. S. 152) – Nach seinem Schreiben an Wilhelm Henzen vom 30. März 1886 waren „eine Menge Verbesserungen und Zusätze“ notwendig, für die Gregorovius auch auf die Korrekturen Henzens zurückgegriffen hatte (Deutsches Archäologisches Institut Rom, A-II-GreF-HenW-012). Von dem bevorstehenden Druck der Übersetzung bei dem Pariser Verleger Calmann Lévy, die nie erschien, hatte Gregorovius Hermann von Thile vom 13. März 1887 berichtet. Michel Levy das Manuscript erst angenommen, ein Jahr bei sich behalten und dann jener Dame simpliciter zurückgeschickt, mit der Bemerkung, daß er keine Übersetzungen verlege.Nicht der bereits verstorbene Verlagsgründer von „Michel Lévy frères“, Michel Lévy (1821–1875), sondern sein Geschäftspartner und Bruder Calmann (1819–1891) leitete den Pariser Verlag, der zu den bedeutendsten in Frankreich gehörte, seit 1875 unter dem Firmennamen „Calmann Lévy“. Dies widerfuhr der Tochter Renans von dem Verleger ihres Vaters.Noëmi Psichari-Renan war die Tochter von Ernest Renan (1823–1892), dem auch von Gregorovius hochgeschätzten Archäologen und agnostischen Religionswissenschaftler am Collège de France. Renans berühmte Schriften hatten zum Renommee des Verlagshauses Lévy beigetragen. Renan selbst hatte seine Tochter für die Übersetzung des „Hadrian“ empfohlen, nachdem Gregorovius ihm ein Exemplar zugesandt hatte (Brief von Renan an Gregorovius vom 22.9.1884, BSB München, NL Gregorovius, Gregoroviusiana 21, Renan, Ernest). Gregorovius war stolz darauf, dass Renans Schrift „L’Ecclesiaste, traduit de l’hébreu, avec une étude sur l’âge et le caractère du livre“ (Paris: Calmann Lévy 1882) zeitgleich mit dem Erscheinen der italienischen Übersetzung seiner „Athenaïs“ (Leipzig: Bockhaus 1882), „Atenaide. Storia di una Imperatrice bizantina“ (Rom, Turin, Florenz: Loescher 1882), auf den Index gesetzt worden war (siehe den Brief von Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli vom 23.7.1882 und RT, 24.1.1864, S. 175).
Über Barcelona, von Don Antonio Rubio y Lluch,Der Gregorovius immer wieder hilfreiche, in Barcelona lehrende Gräzist, Hispanist und Katalanist Antoni Rubió y Lluch (1856–1937), mit dem er seit 1885 korrespondierte (siehe den Brief von Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger vom 25.8.1889). ist mir die Notiz zugegangen, daß im Jahre 1883 erschienen ist eine histoire du duché d’Athènes et de la baronnie d’Argos von Brisson de Sainte Marie.Die im Januar 1883 an der École des Chartes eingereichte Promotion des früh verstorbenen, aus Algerien stammenden Mediävisten René Bisson de Sainte-Marie (1857–1886) über die Geschichte des Herzogtums Athen und der Baronie Argos von 1204 bis 1464, „Histoire du duché d’Athènes et de la baronnie d’Argos“. Allein ein kurzes Thesenpapier hierüber erschien in „Positions des thèses soutenues par les élèves de la promotion pour obtenir le diplôme d’archiviste paléographe“ (Paris 1883. S. 13–16). Nach dieser Schrift erkundigte sich Gregorovius auch im Brief an den mit ihm eng befreundeten Bibliothekar der Königlichen Landesbibliothek in Stuttgart und Historiker Wilhelm Heyd (1823–1906) vom 9. Januar 1889 (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. 4° 391, Kaps. I, 232e). Die hiesige Bibliothek besitzt dies Buch nicht; vergebens zog ich den Katalog von Lorenz zu Rate;Der seit 1855 in Paris ansässige, inzwischen eingebürgerte Buchhändler und Bibliograph Otto Lorenz (1831–1895) war der Herausgeber des auch durch Sachregister erschlossenen „Catalogue général de la librairie française“ (11 Bde. 1867–1888), der nach dem Verkauf des Unternehmens unter seinem Namen weitergeführt wurde. es steht in ihm nicht verzeichnet. | 2vIch weiß daher nicht, ob es sich um ein Buch oder einen Essay handelt. Haben Sie die Güte mich darüber aufzuklären, und in einer Postkarte mir anzugeben, wo die Schrift erschienen ist und welchen Umfang dieselbe hat.Um die, wenig erstaunlich, nach wie vor auch von Müntz unauffindbare Studie von Bisson de Sainte-Marie geht es auch im Brief von Gregorovius an Müntz vom 26. Januar 1889 (Bibliothèque nationale de France, Département des Manuscrits occidentaux, Correspondance d’Eugène Müntz, NAF 11295, XVIII Godillot–Guyard, 235). Ich würde sie dann von Paris kommen lassen.
Ihnen alles erwünschte Gute wünschend,
Ihr in freundschaftlicher Hochachtung ergebener
Ferd. Gregorovius
civis Romanus.