München, 22. März 1891.
Lieber Freund,Der Althistoriker Franz Rühl (1845–1915) war der Sohn des Hanauer Oberbürgermeisters August Rühl (1815–1850) und seiner Frau Natalie, geb. Weigel (†1902). Rühl war lebenslang vielfach interessiert, entschied sich aber für ein Studium der Klassischen Philologie in Jena (bei dem Universalhistoriker Wilhelm Adolf Schmidt, 1812–1887), Berlin und zuletzt in Marburg bei dem Althistoriker, Philologen und Archäologen Kurt Wachsmuth (1837–1905). Rühl schloss sein Studium 1867 mit einer Dissertation über die Quellen Plutarchs im Leben des Kimon ab, legte aber danach noch ein Staatsexamen in Geschichte, Philologie und Erdkunde ab. Im Frühjahr 1868 und vom November 1869 bis zum Mai 1870 unternahm er eine Bildungsreise nach Italien. Nach seiner Rückkehr arbeitete er in Hamburg und Schleswig als Lehrer, nahm seine akademische Laufbahn dann aber wieder auf und habilitierte sich 1871 in Leipzig mit seiner Schrift „Die Verbreitung des Justinus im Mittelalter“, die später in Zusammenarbeit mit dem Königsberger Historiker Alfred Freiherr von Gutschmid (1831–1887) unter dem Titel „Justinus epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi“ 1886 in Leipzig bei Teubner erschien (Nachdruck 1972). 1872 ging Rühl als Privatdozent an die Universität Dorpat. 1874 bis 1875 hielt er sich zu Forschungszwecken in England auf, bevor er 1875 in Dorpat außerordentlicher Professor, wenig später Ordinarius wurde. Als Nachfolger von Alfred Freiherr von Gutschmid nahm Rühl 1876 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Alte Geschichte an die Universität Königsberg an, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. 1876 heiratete Rühl Elise Henle (1848–1923), die Tochter des Göttinger Anatomen Jakob Henle (1809–1885), mit der er zwei Söhne bekam. Im Wintersemester 1905/1906 war Rühl Rektor der Königsberger Albertina, zudem gehörte er 1880 bis 1910 der Stadtverordnetenversammlung an. Als überzeugter Demokrat und Mitglied der Freisinnigen Volkspartei war er aber immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Seine zunehmend schwindende Sehkraft veranlasste 1911 seine Emeritierung und seinen Umzug nach Jena, wo er vollständig erblindete. Gregorovius und Rühl hatten sich im Frühjahr 1868 in Rom kennen und schätzen gelernt. Rühl war für historische Studien nach Italien gekommen, ohne noch feste Pläne über seine fernere Laufbahn gefasst zu haben. Die etwa achtzig im Nachlass von Franz Rühl erhaltenen Briefe und Postkarten von Gregorovius an Rühl aus den Jahren 1868 bis 1891 zeugen von ihrem freundschaftlichen, zuweilen nicht spannungsfreien Verhältnis. Der mehr als zwanzig Jahre ältere Gregorovius war Rühl ein väterlicher Ratgeber und Mentor, der an dem Jüngeren das große „Wissen im Fach der Philologie und Geschichte“ schätzte (RT, 29.5.1870, S. 282). Von einer wissenschaftlichen Karriere versuchte ihn Gregorovius der unsichereren Zukunftsaussichten wegen abzubringen, doch kam Rühl im November 1869 bis zum Mai 1870 – unzufrieden mit seinen zwischenzeitlichen Anstellungen als Privatlehrer in Hamburg und am Schleswiger Gymnasium – erneut nach Rom. Finanziert wurde der zweite Romaufenthalt von Rühl vermutlich von seinen Korrespondenten-Beiträgen für die Berliner „National-Zeitung“, die Gregorovius im Herbst 1869 nach fast zehn Jahren aufgegeben hatte. Zudem stand im Frühjahr 1870, als Rühl nach Deutschland zurückkehrte, fest, dass dieser das Gesamtregister von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (8 Bde. Stuttgart: Cotta 1859–1872) übernehmen würde (siehe ebd., 29.5.1870, S. 282). Wegen Rühls 1871 in Leipzig abgeschlossener Habilitation und seiner Übersiedlung nach Dorpat wurde die Arbeit daran zwar immer wieder unterbrochen, doch konnte sie noch rechtzeitig mit dem Druck letzten Bandes fertiggestelt werden. Über die Jahrzehnte empfahl Gregorovius seinen Freund immer wieder für Buchprojekte bei Cotta und Brockhaus, es vertiefte sich aber auch ihr persönliches Verhältnis. Am 28. Mai 1891 hielt sein lebenslanger Freund Rühl eine Gedächtnisrede auf Gregorovius in der Sitzung der Königlich Deutschen Gesellschaft in Königsberg (Ferdinand Gregorovius. Gedächtnisrede, gehalten in der Sitzung der Königl. Deutschen Gesellschaft in Königsberg am 28. Mai 1891). Nach dem Tod besorgte Rühl die von Gregorovius noch vorbereiteten Manuskripte für die Neuauflagen einiger seiner Schriften.
ich habe die Kunde von dem schweren Verlust erhalten, welcher Sie und vor allem Ihre Frau betroffen hat, da ihr der Tod die Mutter raubte.Elise Rühl (1848–1923) war die Tochter des Göttinger Anatomen Jakob Henle (1809–1885) aus dessen erster Ehe mit Elise, geb. Egloff (1821–1848), die einen Monat nach ihrer Geburt an Tuberkulose gestorben war. Da auch ihre Stiefmutter Marie, geb. Richter (1827–1866) längst tot war, und Rühls lange verwitwete Mutter Natalie, geb. Weigel erst 1902 in Arolsen starb, ist der Hintergrund dieser Beileidsbekundung unklar (auch der ältere Bruder von Elise Rühl sowie ihre Stiefgeschwister lebten noch). Ich nehme den Anteil des Freundes daran.
In Königsberg starb plötzlich Professor Bujack,Am 19. März 1891 war der Gymnasialprofessor des Altstädtischen Gymnasiums zu Königsberg und Prähistoriker Georg Bujack (*1835) einem Herzinfarkt erlegen. Er war seit 1869 Kustos der Sammlungen und seit 1872 Vorstand der dortigen Altertumsgesellschaft Prussia, dessen Mitglied auch Gregorovius’ Bruder Julius (1819–1891) war, sowie Schriftführer der Königlich Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Bekannt war Bujack durch lokale Grabungen von Urnen- und Steinkistengräber sowie durch historische Schriften zur Geschichte und Prähistorie Ostpreußens geworden. Er war wie Gregorovius und sein Bruder Julius Mitglied der Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft in Königsberg und hatte seinerzeit eine Besprechung „Ueber die Ordensstadt Neidenburg und über den Verfasser der Geschichte derselben, Julius Gregorovius“ geschrieben (in Sitzungsberichte der Altertumsgesellschaft Prussia zu Königsberg i. Pr. 1883/84. Königsberg 1885. S. 53–79). wie mir dessen KinderAus seiner Ehe mit Marie Bujack, geb. Steinwender (1835–1884) hatte Bujack die noch unverheiratete Tochter Anna (1871–1936) und den Sohn Hans, über den nichts ermittelt werden konnte. gestern gemeldet haben. Da ich deren Adresse nicht kenne, bitte ich Sie, das beiliegende Billet in ein Couvert zu legen, | 1vdieses an dendie SohnTochter Bujacks zu adressiren und ihmihr zukommen zu lassen. Sie scheint unverheiratet zu sein.Anna Bujack ehelichte erst 1894 den Königsberger Mediziner Julius Weisner (1869–1925).
In meinem Hause sieht es nicht gut aus. Mein Bruder erholt sich von seiner schweren Krankheit so langsam, daß ich die Sorge um ihn nicht los werde.Nach zwischenzeitlicher Besserung starb Julius Gregorovius am 18. Juli 1891, gut zweieinhalb Monate nach seinem jüngeren Bruder. Dies war ein schrecklicher Winter. Ich selbst bin von der Influenza ergriffen; die wütendsten Kopfschmerzen machen mich zu jeder Arbeit untauglich.Am 15. April 1891 vermeldeten die „Münchner Neuesten Nachrichten“, dass Gregorovius an einer Meningitis erkrankt sei (Nr. 168). Über den Verlauf seiner zu diesem Zeitpunkt offenbar schon Wochen anhaltenden Krankheit schrieb Julius Gregorovius am 17. April 1891 an die gemeinsame Freundin Clara Faltin, geb. Bornträger (1834–1914) nach Dresden (siehe in Johannes Hönig: Ferdinand Gregorovius der Geschichtschreiber der Stadt Rom. Stuttgart, Berlin 1921. S. 527). Die „Allgemeine Zeitung“ wie die „Münchner Neuesten Nachrichten“ berichteten nahezu täglich über das Befinden und den Verlauf seiner Krankheit, so dass die am 2. Mai 1891 zum Abdruck kommende Nachricht erst nach seinem Ableben am Abend des 1. Mai 1891 erschien: „(Das Befinden des Herrn Dr. v. Gregorovius) wird von den Aerzten, die jeden Tag dreimal zur Berathung zusammentreten, leider als hoffnungslos bezeichnet. Der Kranke ist ungemein schwach und muß künstlich ernährt werden. Er ist sich übrigens seiner Lage vollständig bewußt und äußerte gestern, als man ihm frische Wäsche anzog: ‚Das wird wohl mein Todtenhemd sein.‘“ (Münchner Neueste Nachrichten. Nr. 198. S. 3). Rühl hielt am 28. Mai 1891 in der Sitzung der Königlichen Deutschen Gesellschaft in Königsberg die Gedächtnisrede auf Gregorovius (als Separatdruck erschienen und in Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 125–126 und Nr. 128. Königsberg 1.–2. und 5.6.1891). Der Geschwister wegen kann ich München nicht verlassen.
Ich hoffe, daß Sie den 4ten Band Rom in 4ter Auflage erhalten haben.Die vierte Auflage des vierten Bandes seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (Stuttgrat: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1890) war nach dem Brief von Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger vom 5. Februar 1891 im vergangenen Monat „vom Stapel gelaufen“ (DLA Marbach, Cotta-Archiv, Cotta-Briefe, 494). Deren Vollendung werde ich kaum erleben.Die vierte Auflage wurde erst posthum, aber noch von Gregorovius selbst revidiert, im Jahr 1896 abgeschlossen – so wie auch die ersten beiden Bände der fünften Auflage (1903) nach den noch von ihm selbst revidierten Manuskripten gedruckt wurden (siehe Waldemar Kampf: Editorische Hinweise. In: Ferdinand Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Hrsg. von dems. 4 Bde. Bd. 4. München 1988. S. 5–63, hier S. 57–58). Nach dem Schreiben von Gregorovius an die J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger vom 8. September 1890 hatte Gregorovius schon damals für seinen „Todesfall die Anordnung getroffen“, dass die bereits von ihm „durchgesehenen Bände“ dem Verlag zugestellt werden, deren Druck Franz Rühl „gerne“ überwachen wird.
Nun tausend herzliche Grüße und Wünsche für Sie und Ihr Haus.
In alter Freundschaft Ihr F. Gr.