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Gesamtdatenbank
der Korrespondenz
Hrsg. Angela Steinsiek
Mitarb. Katharina Weiger
Ferdinand Gregorovius an Contessa Ersilia Caetani Lovatelli in Rom
Stuttgart, 6. September 1871


DE
Über seinen Aufenthalt in Berg und seine Arbeit in der Königlichen Landesbibliothek in Stuttgart. Er wird im Oktober nach München zurückkehren. Ignaz von Döllinger und Wilhelm von Giesebrecht wollen ihn zur dauerhaften Niederlassung bewegen. Michelangelo Caetani hat ihn zum Testamentszeugen bestellt. Sein in der „Allgemeinen Zeitung“ anonym abgedruckter Artikel zur Eingliederung des Kirchenstaats in das Königreich Italien (Der Sturz des Papstthums in Rom, 1871) wurde in der „Libertà“ unter seinem vollen Namen veröffentlicht (Il potere temporale e la Storia, 1871). Er befürchtet, dass ihm deshalb der Zugang zu den römischen Bibliotheken verwehrt wird.

EN
About his stay in Berg and his work in the Royal State Library in Stuttgart. He will return to Munich in October. Ignaz von Döllinger and Wilhelm von Giesebrecht want to persuade him to settle there permanently. Michelangelo Caetani has appointed him as a witness to his will. His article on the incorporation of the Papal State into the Kingdom of Italy (Der Sturz des Papstthums in Rom, 1871), printed anonymously in the „Allgemeine Zeitung“, was published in the „Libertà“ under his full name (Il potere temporale e la Storia, 1871). He fears that he will be denied access to the Roman libraries for this reason.
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Stuttgart, Buchhandlung Cotta, 6. September 1871.

[...]

Auch Gregorovius frequentierte den Salon der „gelehrtesten Frau Roms und vielleicht Italiens“ (RT, 1874, S. 336) regelmäßig. Kennengelernt hatte er sie schon als Kind über ihren Vater, der ihm ab Dezember 1857 das Familienarchiv der Caetani zur Verfügung gestellt hatte (siehe ebd., 31.12.1857, S. 69). Ersilia Caetani und Gregorovius korrespondierten über ein Vierteljahrhundert lang, insbesondere nachdem er Rom 1874 endgültig verließ. Einzelne seiner Briefe an Raffaele Mariano (1840–1912) aus späteren Jahren zeugen von Spannungen in ihrer Beziehung (siehe die Briefe von Gregorovius an Raffaele Mariano vom 6.11.1877 und 29.11.1877). Die Mehrzahl der Schreiben von Gregorovius an die Ersilia Caetani Lovatelli wurde nach dem Tod von Gregorovius durch den beiden bekannten österreichischen Journalisten und Schriftsteller Sigmund Münz (1859–1934) aus dem Italienischen übersetzt und (häufig gekürzt) publiziert (Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli. Hrsg. von Sigmund Münz. Berlin: Paetel 1896). Leider sind die italienischen Originalbriefe (die wenigsten wurden auf Deutsch geschrieben) von Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli trotz umfangreicher Recherchen nicht mehr nachweisbar, so dass für die Textkonstitution einzig die deutsche Edition zur Verfügung steht. Die bei Münz übliche Praxis, Worterklärungen, Sachanmerkungen und Auslassungen in runden Klammern in den Brieftext zu integrieren, findet in vorliegender Edition nur dann Berücksichtigung, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie von Gregorovius stammen.
(Angela Steinsiek)

Ich habe die süße Einsamkeit des Mineralbades Berg-Cannstatt, einen reizenden Ort in der Nähe Stuttgarts, aufgesucht. Da ruhe ich ein wenig aus, studire jedoch viele Stunden in der Bibliothek der Hauptstadt. [...] Im Oktober werde ich zurück in München sein. Döllinger, Giesebrecht und andere wollen mich dort mit Gewalt als Mitglied der Akademie der Wissenschaften festhalten, und ich will wenigstens versuchen, welche Wirkung auf meine nervöse und so sensible Konstitution jenes kalte und fast entsetzliche Klima üben wird. [...] Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mich auf der Reise oft der edlen und unvergleichlichen Freunde erinnere, die jetzt in Frascati wohnen. Sagen Sie dem Herzog, Ihrem Vater, daß mich der Gedanke, als Zeuge auf seinem Testament zu figuriren, | 69mit Stolz erfüllt. Dieses Testament wird durch den Namen Ihres Vaters von historischer Bedeutung für die Familie Gaëtani sein. Vielleicht habe ich nicht unverdient den Namen meiner Wenigkeit darauf verzeichnet. Das darf ich mit Rücksicht auf die große Liebe sagen, die ich für das Haus Gaetani hege und immer hegen werde.

Aus Rom kamen mir Briefe, die mir von einem mich betreffenden wahrhaft beklagenswerthen Faktum Kunde gaben. Ich hatte für die „Allgemeine Zeitung“ einen Artikel über den Untergang des politischen Papstthums geschrieben, um die öffentliche Meinung in meinem Vaterlande, die sich nicht überall der gewaltsamen Transformation des römischen Staates günstig gezeigt hat, ein wenig zu beeinflussen. Ich unterzeichnete diesen etwas heftigen Artikel mit meiner gewohnten Chiffre, die in meinem Vaterlande wohl bekannt ist. Ein Römer nun, höchst indiskret, wenn er mein Freund, abgefeimt und perfid, wenn er mein Feind ist, hat ohneweiters den Artikel übersetzt und darauf mit meinem vollen Namen drucken lassen. Man schrie ihn in ganz Rom aus und schleppte ihn sozusagen durch den Schmutz des niedrigsten Boulevard-Journalismus. Meine Freunde avisirten mich mit Unwillen davon. Und wahrhaftig, ich war über den Mißbrauch meines Namens und diese Indiskretion geradezu bestürzt. Die Folge davon wird sein, daß die vatikanische und überhaupt eine jede Bibliothek Roms mir nun für immer hermetisch verschlossen bleibt. Ich bin davon so angewidert, daß jene indiskrete That meine Absicht sehr beeinflußt, Rom für immer zu verlassen. Entschuldigen Sie, Frau Gräfin, daß ich Sie mit diesem Jammer langweile, aber ich wollte mich in Gegenwart einer Person aussprechen, die, wie Sie, mir gegenüber diskret und wohlwollend ist. [...]

Zitierhinweis: Ferdinand Gregorovius an Contessa Ersilia Caetani Lovatelli in Rom. Stuttgart, 6. September 1871. In: Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition). Hrsg. von Angela Steinsiek unter Mitarbeit von Katharina Weiger. Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023. URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000451