Stuttgart, Buchhandlung Cotta, 6. September 1871.
[...] Ersilia Contessa Caetani Lovatelli (1840–1925) war die Tochter des Herzogs von Sermoneta, Michelangelo Caetani (1804–1882) und dessen erster Gattin, der polnischen Adligen Calixta Rzewuska (1810–1842). Ersilia Caetani genoß eine unkonventionelle Erziehung durch den verwitweten Vater, der sie bereits in jungen Jahren mit dem Studium von Altertümern, eines seiner eigenen Interessen, vertraut machte. 1859 heiratete Ersilia Giacomo Lovatelli (1832–1879) einen aus der Provinz Ravenna stammenden Patrizier. Zu dieser Zeit kam sie in Kontakt mit dem römischen Kreis um den einflussreichen christlichen Archäologen Giovanni Battista De Rossi (1822–1894). 1878 veröffentlichte sie ihren ersten wissenschaftlichen Aufsatz über eine Inschrift an einem römischen Grabaltar (La iscrizione di Crescente auriga circense. In: Bullettino Archeologico Comunale. Jg. 6. Ser. 2. Nr. 3. Rom 1878. S. 164–176). Für ihre archäologischen und stadtgeschichtlichen Forschungsarbeiten verschaffte sie sich zunehmendes Ansehen. 1879 wurde sie als erste Frau zum Mitglied der traditionsreichen römischen Accademia dei Lincei ernannt. In ihr Haus lud sie, wie ihr Vater in das seine, regelmäßig die bedeutendsten Gelehrten des In- und Auslandes. Auch Gregorovius frequentierte den Salon der „gelehrtesten Frau Roms und vielleicht Italiens“ (RT, 1874, S. 336) regelmäßig. Kennengelernt hatte er sie schon als Kind über ihren Vater, der ihm ab Dezember 1857 das Familienarchiv der Caetani zur Verfügung gestellt hatte (siehe ebd., 31.12.1857, S. 69). Ersilia Caetani und Gregorovius korrespondierten über ein Vierteljahrhundert lang, insbesondere nachdem er Rom 1874 endgültig verließ. Einzelne seiner Briefe an Raffaele Mariano (1840–1912) aus späteren Jahren zeugen von Spannungen in ihrer Beziehung (siehe die Briefe von Gregorovius an Raffaele Mariano vom 6.11.1877 und 29.11.1877). Die Mehrzahl der Schreiben von Gregorovius an die Ersilia Caetani Lovatelli wurde nach dem Tod von Gregorovius durch den beiden bekannten österreichischen Journalisten und Schriftsteller Sigmund Münz (1859–1934) aus dem Italienischen übersetzt und (häufig gekürzt) publiziert (Ferdinand Gregorovius und seine Briefe an Gräfin Ersilia Caetani Lovatelli. Hrsg. von Sigmund Münz. Berlin: Paetel 1896). Leider sind die italienischen Originalbriefe (die wenigsten wurden auf Deutsch geschrieben) von Gregorovius an Ersilia Caetani Lovatelli trotz umfangreicher Recherchen nicht mehr nachweisbar, so dass für die Textkonstitution einzig die deutsche Edition zur Verfügung steht. Die bei Münz übliche Praxis, Worterklärungen, Sachanmerkungen und Auslassungen in runden Klammern in den Brieftext zu integrieren, findet in vorliegender Edition nur dann Berücksichtigung, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie von Gregorovius stammen.
(Angela Steinsiek)
Aus Rom kamen mir Briefe, die mir von einem mich betreffenden wahrhaft beklagenswerthen Faktum Kunde gaben. Ich hatte für die „Allgemeine Zeitung“ einen Artikel über den Untergang des politischen Papstthums geschrieben, um die öffentliche Meinung in meinem Vaterlande, die sich nicht überall der gewaltsamen Transformation des römischen Staates günstig gezeigt hat, ein wenig zu beeinflussen. Ich unterzeichnete diesen etwas heftigen Artikel mit meiner gewohnten Chiffre, die in meinem Vaterlande wohl bekannt ist. Ein Römer nun, höchst indiskret, wenn er mein Freund, abgefeimt und perfid, wenn er mein Feind ist, hat ohneweiters den Artikel übersetzt und darauf mit meinem vollen Namen drucken lassen.Mit der für Gregorovius’ Beiträge üblichen Sigle als „Der Sturz des Papstthums in Rom“ in der „Allgemeinen Zeitung“ (Beilage zu Nr. 206. 25.7.1871. S. 3685–3686, https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11032276?page=422,423 – wieder abgedruckt in Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung. Hrsg. von Arnold Esch u. Jens Petersen. Tübingen 1993. S. 281–285). Die italienische Übersetzung war unter seinem vollen Namen mit dem Titel „Il potere temporale e la Storia“ in der parteiischen Tageszeitung „La Libertà. Gazzetta del Popolo Giornale Politico Quotidiano“ zum Abdruck gekommen (Jg. 2. Nr. 212. Rom 4.8.1871. [S. 1]). Siehe hierzu Angela Steinsiek: Private und öffentliche Kommunikationsstrategien in den Korrespondenzen und Briefen von Ferdinand Gregorovius. In: Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert. Neue Perspektiven auf die Briefkultur. Hrsg. von Markus Bernauer, Selma Jahnke, Frederike Neuber und Michael Rölcke. Darmstadt 2023. S. 293–309. Man schrie ihn in ganz Rom aus und schleppte ihn sozusagen durch den Schmutz des niedrigsten Boulevard-Journalismus. Meine Freunde avisirten mich mit Unwillen davon. Und wahrhaftig, ich war über den Mißbrauch meines Namens und diese Indiskretion geradezu bestürzt. Die Folge davon wird sein, daß die vatikanische und überhaupt eine jede Bibliothek Roms mir nun für immer hermetisch verschlossen bleibt. Ich bin davon so angewidert, daß jene indiskrete That meine Absicht sehr beeinflußt, Rom für immer zu verlassen.Gregorovius verließ Rom im Juli 1874 endgültig und siedelte nach München über, um dort mit seinen Geschwistern zusammen zu leben (siehe RT, 14.7.1874, S. 342–343), verbrachte aber bis zu seinem Lebensende jährlich zumeist einige Monate in Rom. Entschuldigen Sie, Frau Gräfin, daß ich Sie mit diesem Jammer langweile, aber ich wollte mich in Gegenwart einer Person aussprechen, die, wie Sie, mir gegenüber diskret und wohlwollend ist. [...]