Rom, 8. November 1857.
Hochverehrter Herr Minister,
nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank für die freundlichen Gesinnungen Ihres Schreibens, welches ich heute am Sonntag (quatro coronati vom Cölius Rom’s)Caelius, einer der sieben Hügel Roms, auf dem eine der Titelkirchen zwischen Colosseum und Lateran steht, die im vierten Jahrhundert errichtete Basilika Santi Quattro Coronati al Laterano. Die namensgebenden Heiligen, die Quatuor coronati (die vier Gekrönten) gehen auf die Überlieferung von Heiligenviten aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts zurück. Nach diesen soll sich das Martyrium der nachträglich als Victorinus, Severus, Carpophorus und Severanius benannten vier römischen Militärbeamten (cornicularii) in der Zeit der Diokletianischen Christenverfolgung zugetragen haben, die sich geweigert hatten, die Statue des Aeskulap zu verehren. Die Reliquien wurden nach Santi Quattro Coronati al Laterano verbracht. Der Gedenktag dieser Märtyrer war zunächst der 8. August, später der 8. November. mit Ruhe beantworten kann.
Ihrer Aufforderung für das Archivio storico,Für die von Giovan Pietro Vieusseux (1779–1863) 1842 gegründete älteste Geschichtszeitschrift Italiens, dem „Archivio Storico Italiano“ (Florenz: Olschki), war Reumont einer der ersten Autoren. einen Discours über Papencordt – HöflerFelix Papencordt (1811 oder 1812–1841), aus dessen Nachlass Constantin von Höfler (1811–1897, ab 1873 Ritter von) 1857 die „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (Paderborn: Schönigh) herausgab (siehe https://archive.org/details/bub_gb_xHU2Q9F602oC/page/n7). zu liefern, würde ich auf der Stelle entsprechen, wenn mich nicht zwei dringende Gründe davon abhielten. Beide werden Sie billigen, und mich deshalb entschuldigen. Der erste ist dieser: weil ich mit derselben Aufgabe beschäftigt bin,Seit Oktober 1855 arbeitete Gregorovius an seinem späteren achtbändigen Hauptwerk, der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (Stuttgart: Cotta 1859–1872), war er Reumont im vorhergehenden Schreiben vom 5. und 29. Oktober 1857 mitgeteilt hatte. kann ich jenem Buche nicht die unparteiische Gerechtigkeit widerfahren laßen, da ich nicht im Stande bin von meiner eigenen Behandlung gänzlich zu abstrahiren; die Beurteilung würde ein wenig subjectiv ausfallen; außerdem müßte ich das Buch mehrfach angreifen, was ich in meinem speciellen Falle nicht gut kann oder darf. Der zweite Grund ist der gänzliche Mangel an Zeit, da ich täglich 9 bis 10 Stunden an meiner Arbeit beschäftigt bin, welche ich eben in ihrer ersten Partie abschließe.
Der arme Papencordt würde wahrscheinlich nicht seine Einwilligung zur Herausgabe bloßer Materialien gegeben haben; so schätzbar diese Studien sind und so groß der daran verwandte Fleiß, so wenig geben sie doch eine Geschichte der Stadt Rom. Man darf eine solche nicht schreiben, ohne | 1vsich so viel als möglich allseitig über ihr Leben zu verbreiten, ohne die Geschichte ihrer Ruinen, ihrer Metamorphosen ins Geistliche zu geben, und sich so gut mit Kunst, Literatur, religiösen Gebräuchen als mit den civilen und politischen Dingen gründlich zu beschäftigen.
Ich wage nicht meine Arbeit „Geschichte“ der Stadt Rom zu nennen, sondern nenne sie Chronik der Stadt Rom im Mittelalter. Ich schließe in diesem Winter den 2. Band ab;So auch die Einschätzung im Brief von Gregorovius an Brockhaus vom 28. September 1857. Band I umfaßt die Periode vom Jahre 403, dem Triumfzug des Honorius, welchem die erste Eroberung und Plünderung der Stadt durch die Barbaren folgt,Flavius Honorius (384–423), der jüngere Sohn des römischen Kaisers Theodosius I. (347–395), der das Christentum faktisch zur alleinigen Staatsreligion erhoben hatte. Nach dem Tod von Theodosius wurde die Macht des Imperium Romanum unter den beiden Söhnen aufgeteilt. Während der ältere Bruder, Flavius Arcadius (377–408), in Konstantinopel als senior Augustus über den Osten herrschte, regierte Honorius zunächst von Mailand, dann von Ravenna aus als junior Augustus Honorius den Westen des Reichs. Nach seinem feierlichen Einzug in Rom Ende 403/Anfang 404 konnte Honorius seine Machtstellung jedoch nicht sichern, was zu Machtkämpfen und Bürgerkriegen führte und 410 zur Plünderung der Hauptstadt des weströmischen Imperiums durch den westgotischen Heerführer Alarich (370–410) und zum Zerfall des weströmischen Reichs (siehe in Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Bd. 1. S. 113–121). bis auf den Sturz der Gothen.552 besiegte der byzantinische Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen Justinians (483–565), Narses (um 490–574), die Truppen der Ostgotenkönige Totila (†552) und Teja (†552) in Italien (siehe in Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Bd. 1. S. 444–451). Band II enthält die Zeit vom NarsesNarses fiel Anfang 568 bei dem neuen Kaiser Justin II. (520–578), einem Neffen Justinians, in Ungnade und wurde abberufen. Der Sturz von Narses findet sich noch im ersten Band von Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (Bd. 1. S. 474–479). bis auf die Krönung Karls.Der König des Fränkischen Reichs, Karl der Große (747/748–814), wurde am 25. Dezember 800 in Alt-St. Peter in Rom als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike zum Kaiser gekrönt (siehe in Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Bd. 2. S. 536–548). Ob ich diese dämonische, grauenvoll schöne und unschätzbare Arbeit (ich rede vom Stoff, wie ich mit einem Seufzer hinzusetze) vollende, weiß ich nicht, aber auch schon die erste Periode von 400 Jahren, so mangelhaft sie sein wird, wird immerhin etwas an die Wißenschaft liefern. Das Material ist völlig incommensurabel, und die Titel der Werke, die dazu benutzt werden müßen, bilden an sich schon einen niedlichen Band – was soll endlich von den Documenten gesagt werden, die mit der zweiten Periode des Mittelalters reichlicher werden! Mich wundert, daß sie in Papencordt, der doch mit großen Mitteln arbeiten durfte, nicht erblickt werden; wo sind diese geblieben?
| 2rDie kleine Storia de’ Corsi ist mir nur lieb, weil sie die Arbeit meines einzigen italienischen Freundes ist;Paolo Perez (1822–1879), der zum Entsetzen von Gregorovius am 18. September 1856 in den Orden der Rosminianer eingetreten war, hatte anonym einen Auszug seines „Corsica“ (Stuttgart: Cotta 1854) ins Italienische übersetzt (Storia dei Corsi. Florenz: Tip. Felice Le Monnier 1857). indeß schreibt mir die Gräfin Gozzadini von Bologna,Die Gräfin Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini (1812–1881) und deren Ehemann Giovanni Gozzadini (1810–1887) hatte Gregorovius über ihren Cousin Graf Paolo Perez kennen und schätzen gelernt. daß sich ein Übersetzer für die folgenden Teile finden wird, oder gefunden hat.Eine vollständige italienische Übersetzung erschien erst 1912 (Corsica. Rom: Enrico Voghera).
Orioli’s Bibliothek wird hier verkauft,Der Mediziner und Archäologe Francesco Orioli (*1783) war am 4. November 1856 gestorben. Orioli war 1815 zum Professor für Physik an die Universität Bologna berufen worden, hatte aber bald auch archäologische Forschungen betrieben. 1831 war er als Minister für öffentliche Bildung Mitglied der provisorischen Regierung in Bologna. Nach dessen Auflösung war er erst ins französische Exil, später nach Korfu gegangen, wo er Forschungen über etruskische und römische Altertümer anstellte und hohe Stellungen bekleidete. 1846 hatte er nach Rom zurückkehren können, wo er Professor für Archäologie und Alte Geschichte an der Universität Sapienza wurde. doch leider nicht an mich.
Ich freue mich Ihres Wolseins, geehrtester Herr Minister; als ich von der Krankheit des Königs hörte,König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) zeigte in den letzten Jahren seiner Regentschaft Symptome von Gehirnarteriosklerose. Ab dem 14. Juli 1857 erlitt er zudem mehrere Schlaganfälle, die auch sein Sprachzentrum in Mitleidenschaft zogen. dachte ich augenblicklich, wie schmerzlich Sie persönlich davon getroffen werden müßten.Reumont begleitete ihn häufiger auf Reisen, auch im folgenden Jahr, als der König, nachdem er am 7. Oktober 1858 die Regentschaftsurkunde für den Prinz Wilhelm von Preußen (1797–1888) unterschrieben hatte, nach Italien reiste, wo er vom 23. Dezember 1858 bis zum 2. Mai 1859 im Palast Caffarelli wohnte (siehe Brief von Gregorovius an Johann Georg von Cotta vom 1.12.1858). Es geht zum Beßern, wie ich auf dem Capitol vernehme, aber welche Hoffnungen für eine wirkliche Genesung zu faßen seien, wißen Sie mehr, als andre. Die Welt will eine neue Façade annehmen, seit Napoleon,Napoléon III. (1808–1873) hatte im Krimkrieg von 1853 bis 1856 mit Großbritannien und dem Osmanischen Reich erfolgreich gegen Russland gekämpft. Der Krieg war am 30. März 1856 mit dem Dritten Frieden von Paris zuende gegangen, der Napoléons Anspruch, Frankreich als führende Großmacht in Europa zu etablieren, stützte. der indeß nur ein Grab übertüncht.Wohl eine Anspielung darauf, dass Napoleon III. seinem Onkel, Napoléon I. (1769–1821), nicht das Wasser reichen könne. Frankreich war seit dem Wiener Kongress (1814–1815) unter europäischer Kontrolle und außenpolitisch isoliert. Wenn man nicht in die heilere Stille der Wißenschaft und Kunst sich oder einen Teil seines Lebens hinüber zu flüchten hätte, so möchte die Unbeständigkeit der Dinge wie ihre Eitelkeit noch unangenehmer zu ertragen sein. Ich wünsche, daß Sie in jenem Reich der Minerva Die römische Göttin der Weisheit und der taktischen Kriegsführung.noch ungezählte Jahre mit voller Freudigkeit wirkten.
Unter der Versicherung, daß die Teilnahme, welche Sie meinen geringen literarischen Dingen gönnen, mir wahrhaft wolthätig ist, Herr Minister,Ihr sehr ergebener Diener
Ferd. Gregorovius.