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der Korrespondenz
Hrsg. Angela Steinsiek
Ferdinand Gregorovius an Alfred von Reumont in Florenz
Rom, 8. November 1857


DE
Er lehnt die Einladung Reumonts ab, für das „Archivio storico italiano“ einen Aufsatz über die aus dem Nachlass von Felix Papencordt herausgegebene „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1857) zu schreiben, weil er selbst an einer „Chronik der Stadt Rom im Mittelalter“ arbeitet – das Manuskript der ersten beiden Bände (1859), die bis zur Krönung Karls des Großen im Jahr 800 reichen, will er im Winter abschließen. Für die italienische Teilübersetzung seines „Corsica“ durch seinen Freund Paolo Perez (1857) hat die Gräfin Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini einen Fortsetzer gefunden. In Rom wird die Bibliothek des verstorbenen Francesco Orioli verkauft. Friedrich Wilhelm IV. wird sich hoffentlich wieder erholen.

EN
He declines Reumont’s invitation to write an essay for the „Archivio storico italiano“ on the „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1857), published from the estate of Felix Papencordt, because he himself is working on a „Chronik der Stadt Rom im Mittelalter“ – he wants to complete the manuscript of the first two volumes (1859), which go up to Charlemagne’s coronation in 800, in the winter. For the partial translation of his „Corsica“ into Italian by his friend Paolo Perez (1857), Countess Maria Teresa Serego Alighieri Gozzadini has found a successor. In Rome the library of the late Francesco Orioli is being sold. Frederick William IV will hopefully recover.
| 1r

Rom, 8. November 1857.

Hochverehrter Herr Minister,

nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank für die freundlichen Gesinnungen Ihres Schreibens, welches ich heute am Sonntag (quatro coronati vom Cölius Rom’s) mit Ruhe beantworten kann.

Ihrer Aufforderung für das Archivio storico, einen Discours über Papencordt – Höfler zu liefern, würde ich auf der Stelle entsprechen, wenn mich nicht zwei dringende Gründe davon abhielten. Beide werden Sie billigen, und mich deshalb entschuldigen. Der erste ist dieser: weil ich mit derselben Aufgabe beschäftigt bin, kann ich jenem Buche nicht die unparteiische Gerechtigkeit widerfahren laßen, da ich nicht im Stande bin von meiner eigenen Behandlung gänzlich zu abstrahiren; die Beurteilung würde ein wenig subjectiv ausfallen; außerdem müßte ich das Buch mehrfach angreifen, was ich in meinem speciellen Falle nicht gut kann oder darf. Der zweite Grund ist der gänzliche Mangel an Zeit, da ich täglich 9 bis 10 Stunden an meiner Arbeit beschäftigt bin, welche ich eben in ihrer ersten Partie abschließe.

Der arme Papencordt würde wahrscheinlich nicht seine Einwilligung zur Herausgabe bloßer Materialien gegeben haben; so schätzbar diese Studien sind und so groß der daran verwandte Fleiß, so wenig geben sie doch eine Geschichte der Stadt Rom. Man darf eine solche nicht schreiben, ohne | 1vsich so viel als möglich allseitig über ihr Leben zu verbreiten, ohne die Geschichte ihrer Ruinen, ihrer Metamorphosen ins Geistliche zu geben, und sich so gut mit Kunst, Literatur, religiösen Gebräuchen als mit den civilen und politischen Dingen gründlich zu beschäftigen.

Ich wage nicht meine Arbeit „Geschichte“ der Stadt Rom zu nennen, sondern nenne sie Chronik der Stadt Rom im Mittelalter. Ich schließe in diesem Winter den 2. Band ab; Band I umfaßt die Periode vom Jahre 403, dem Triumfzug des Honorius, welchem die erste Eroberung und Plünderung der Stadt durch die Barbaren folgt, bis auf den Sturz der Gothen. Band II enthält die Zeit vom Narses bis auf die Krönung Karls. Ob ich diese dämonische, grauenvoll schöne und unschätzbare Arbeit (ich rede vom Stoff, wie ich mit einem Seufzer hinzusetze) vollende, weiß ich nicht, aber auch schon die erste Periode von 400 Jahren, so mangelhaft sie sein wird, wird immerhin etwas an die Wißenschaft liefern. Das Material ist völlig incommensurabel, und die Titel der Werke, die dazu benutzt werden müßen, bilden an sich schon einen niedlichen Band – was soll endlich von den Documenten gesagt werden, die mit der zweiten Periode des Mittelalters reichlicher werden! Mich wundert, daß sie in Papencordt, der doch mit großen Mitteln arbeiten durfte, nicht erblickt werden; wo sind diese geblieben?

| 2rDie kleine Storia de’ Corsi ist mir nur lieb, weil sie die Arbeit meines einzigen italienischen Freundes ist; indeß schreibt mir die Gräfin Gozzadini von Bologna, daß sich ein Übersetzer für die folgenden Teile finden wird, oder gefunden hat.

Orioli’s Bibliothek wird hier verkauft, doch leider nicht an mich.

Ich freue mich Ihres Wolseins, geehrtester Herr Minister; als ich von der Krankheit des Königs hörte, dachte ich augenblicklich, wie schmerzlich Sie persönlich davon getroffen werden müßten. Es geht zum Beßern, wie ich auf dem Capitol vernehme, aber welche Hoffnungen für eine wirkliche Genesung zu faßen seien, wißen Sie mehr, als andre. Die Welt will eine neue Façade annehmen, seit Napoleon, der indeß nur ein Grab übertüncht. Wenn man nicht in die heilere Stille der Wißenschaft und Kunst sich oder einen Teil seines Lebens hinüber zu flüchten hätte, so möchte die Unbeständigkeit der Dinge wie ihre Eitelkeit noch unangenehmer zu ertragen sein. Ich wünsche, daß Sie in jenem Reich der Minerva noch ungezählte Jahre mit voller Freudigkeit wirkten.

Unter der Versicherung, daß die Teilnahme, welche Sie meinen geringen literarischen Dingen gönnen, mir wahrhaft wolthätig ist, Herr Minister,

Ihr sehr ergebener Diener

Ferd. Gregorovius.

In diesem Brief erwähnte Entitäten

Archivio Storico Italiano

Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen
1795 - 1861

Honorius, Kaiser des (West-)Römischen Reichs
384 - 423

Karl der Große, Römischer Kaiser
747/748 - 814

Minerva

Napoléon III., Kaiser von Frankreich
1808 - 1873

Narses
um 490 - 574

Orioli, Francesco
1783 - 1856

Papencordt, Felix
1811 - 1841

Perez, Paolo, Conte
1822 - 1879

Serego Alighieri Gozzadini, Maria Teresa Contessa
1812 - 1881

Bologna

San Quattro Coronati (Rom)

Monte Caelius (Rom)

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Zitierhinweis: Ferdinand Gregorovius an Alfred von Reumont in Florenz. Rom, 8. November 1857. In: Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition). Hrsg. von Angela Steinsiek. Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023. URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000048