Rom, 16. Februar 63.
Mein hochverehrter Herr,Der Diplomat Hermann von Thile (1812–1889) war Ende 1837 bis November 1839 erstmals als Legationssekretär der preußischen Gesandtschaft in Rom stationiert. In den folgenden Jahren wurde er nach Bern, 1842 nach Wien und London entsandt, 1849 wurde er Legationsrat in Frankfurt am Main, 1849 Geschäftsträger in Kassel und 1852 Gesandter in Athen. Im Dezember 1854 bis Ende Juli 1858 war er erneut als preußischer Gesandter beim Heiligen Stuhl in Rom eingesetzt und dort zuletzt bevollmächtigter Minister Preußens. Thile war seit 1846 mit Ottilie, geb. von Graefe (1816–1898) verheiratet – einer Tochter des Mediziners Karl von Graefe (1787–1840) und Schwester des Augenarztes Albrecht von Graefe (1828–1870) –, mit der er den Sohn Hans (1848–1869) hatte. Dessen im Juni 1858 erstmals auftretende Epilepsie veranlassten ihn, im Juli 1858 erst ins schweizerische Heiden und dann ganz nach Deutschland zurückzukehren, wo er sich in den vorläufigen Ruhestand versetzen ließ. 1862 kehrte er als Unterstaatssekretär im Außenministerium in den Staatsdienst zurück. Im März 1871 wurde er unter Otto von Bismarck (1815–1898) erster Staatssekretär des Auswärtigen Amtes im neu gegründeten Deutschen Kaiserreich, trat Ende September 1872 wegen der Verleihung des Schwarzen Adlerordens an den russischen und den österreichischen Botschafter aber zurück. Gregorovius hatte Hermann von Thile gleich nach dessen Ankunft in Rom kennengelernt. Zu ihm, dessen große „Kenntnis in vielen Literaturen“ (RT, 17.9.1857, S. 68) er bewunderte, und zu seiner Familie entwickelte sich schnell einen freundschaftlich-familiäres Verhältnis, das nach Thiles Weggang aus Rom brieflich und durch gelegentliche persönliche Begegnungen, wie gemeinsame Kuraufenthalte im schweizerischen Heiden, gepflegt wurde. Neben Christian Karl Josias von Bunsen (1791–1860) war es Thile, der Gregorovius 1860 beim Kultusministerium der preußischen Regierung ein Stipendium zur Fertigstellung seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872) vermittelte (siehe den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 9.8.1860). Als Thile ihm im Frühjahr 1866 mitteilte, dass diese Unterstützung um die Hälfte gekürzt werden würde, nahm Gregorovius ihm das persönlich übel (siehe RT, 8.4.1866, S. 207 und den Brief-Entwurf von Gregorovius an Thile vom 9.4.1866) und ihr Briefwechsel ruhte bis 1870, als er die Familie Thile zufällig in München wiedertraf (siehe RT, 24.9.1869, S. 265). Die rund 135 Briefe von Gregorovius an Thile und seine Frau Ottilie sind 1898 von den Erben nahezu vollständig an das GSA in Weimar gegeben worden (Erstdruck, zumeist gekürzt, in Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile. Hrsg. von Hermann von Petersdorff. Berlin 1894), während von Thiles nicht mehr nachweisbaren Gegenbriefen nur wenige späte Schreiben (1885–1889) von Johannes Hönig aus dem Besitz von Thiles Verwandten an entlegener Stelle herausgegeben wurden (1928 in Die Kultur. Wissenschaftliche Beilage der Schlesischen Volkszeitung). Demnach muss Gregorovius Thile mindestens diese Briefe vor seinem Tod zurückgegeben haben.
oftmals hat es mich getrieben, Ihnen in dem Neuen Jahr zu schreiben, und zu der vita nuova aufrichtig Glück zu wünschen, welche sie mit ihm selbst angetreten haben;Thile war als Unterstaatssekretär (bis 1872) im preußischen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, unter dem neuen preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815–1898), in den Staatsdienst zurückgekehrt. wenn ich mir aber die Fülle Ihrer Geschäfte vorstellte, so stand ich immer wieder von meinem Vorhaben ab. Nun aber, da Sie in alter Freundlichkeit mich zum Schreiben ermuntern, wie mir das Raymundus a PeñafortScherzname für den Thile eng befreundeten, vielschreibenden Alfred von Reumont (1808–1887). eben mitteilte, thue ich es auch mit tausend Freuden, und wünsche Ihnen aus aufrichtigem Herzen zu einer hohen und großen Thätigkeit Glück, welche Ihnen zur inneren Befriedigung, und dem Vaterlande zur Förderung, unter so schwierigen Umständen, gereichen möge. Gerne würde ich, in der demütigen Gestalt eines Clienten aus Rom, stundenlang in Ihrem von Schwärmen der Menschheit erfüllten Vorzimmer warten, wenn ich dadurch die Freude haben könnte, Ihnen all dies persönlich zu wünschen.
Der römische Winter ist unterdeß mit seiner bekannten kalendarischen Folgerichtigkeit, und seiner horazischen FugacitätFlüchtigkeit. dahingegangen; | 1ver ward verschönert durch eine milde Geselligkeit mit reichem Anteil menschlicher Gefühle, und veredelt durch vorwärtsschreitende Arbeit. In meiner Geschichte der Stadt, diesem Ocean, den ein größerer conquistadorPortugiesisch: Eroberer. hätte beschiffen sollen, als ich es bin, kam ich bereits in den guten Breitengrad, wo man das Cap de buena EsperanzaSpan.: Kap der guten Hoffnung – die zwanzig Kilometer ins Meer reichende Felsenzunge nahe der Südspitze Afrikas wurde im April 1488 von dem portugiesischen Seefahrer und Entdecker Bartolomeu Diaz (um 1450–1500) erstmals vermessen. Es war die Entdeckung des Seewegs nach Indien, der jedoch wegen seiner Klippen gefürchtet war; zahllose Schiffe havarierten. Mit der Eröffnung des Suezkanals im November 1869 verlor die Route um die Südspitze Afrikas an Bedeutung. von weitem erblickt, aber in die Häfen Indiens werde ich deshalb wol nicht einlaufen. Ich hoffe, daß Sie, mein verehrter Herr, die Gründe billigen, die mich stets abhalten werden, von Münchner Privatgnaden zu leben,Gregorovius das Angebot einer Professur in München durch König Maximilian II. von Bayern (1811–1864) abgelehnt (siehe die Briefe von Gregorovius an Adolf Friedrich von Schack vom 11.9.1862 und an Thile vom 15.11.1862). und daß Sie mir selbst, nach Vollendung meiner Geschichte, die noch etwa 5 Jahre in Anspruch nehmen wird,Gregorovius arbeitete gerade am fünften Band seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (Stuttgrat: Cotta 1865), der achte und letzte Band erschien 1872. es anwünschen werden, noch irgend wie in der Stille jener leichtergeschürzten Muse zu leben, die mir manchmal, in Nächten, vorwurfsvoll an dem westlichen Horizont meines Lebens erscheint.
Ich habe durch den Tod des Baron CottaDer Senior-Verleger Johann Georg Freiherr Cotta von Cottendorf (*1796) war am 1. Februar 1863 verstorben. einen Verlust erfahren, der für mich das Ansehen einer Calamität hat; seit 10 Jahren stand ich mit ihm in Verkehr; er war mir persönlich wolwollend, und hatte eine aufrichtige Freude an meinem Werk;In seinem letzten Brief an Gregorovius hatte Cotta am 5. Januar 1863 geschrieben: „Wegen Ihres Werkes habe ich nicht bang. Ich bin stolz auf seinen Verlag und wird sich gewiß Bahn brechen, wenn auch etwas langsamer wegen seiner wie natürlich langsamen Erscheinung.“ (BSB München, NL Gregorovius, Gregoroviusiana 21) Siehe auch den Brief von Gregorovius an Cotta vom 31. Dezember 1862 (in Johannes Hönig: Ferdinand Gregorovius der Geschichtschreiber der Stadt Rom. Stuttgart, Berlin 1921. S. 252–253, RT, 22.2.1863, S. 158 sowie den Kondolenzbrief von Gregorovius an den Geschäftsführer Louis Roth vom 21.2.1863). in ihm lebte noch die Tradition | 2rder großen Literatur-Epoche, deren kleine Epigonen wir sind – und, kurz und gut, hier ist auch in meinen Beziehungen eine Lücke entstanden, die mir sehr fühlbar bleiben wird.
Ich habe Ihnen aus Rom nicht viel zu melden. Der neue Minister Preußen’s ist angekommen,Der preußische General Friedrich Adolf Freiherr von Willisen (1798–1864) war, nachdem Preußen am 23. Juli 1862 das Königreich Italien anerkannt hatte, erster Gesandter der preußischen Staatsregierung am italienischen Königshof von Vittorio Emanuele II. (1820–1878) geworden (siehe RT, 22.2.1863, S. 158). ein, wie es scheint, human gesinnter Mann, von erleuchtetem Geist. Herr von Reumont hatte diese Stelle erhofft als den Gipfel seiner Wünsche;Alfred von Reumont, ehemaliger Ministerresident am Hof des Großherzogs Leopold II. von Toskana (1797–1870), war zum 1. Januar 1861 in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden, nachdem die Toskana Teil des neuen italienischen Königreichs geworden war. in manchem Betracht wäre es für die hiesigen Deutschen von Förderung gewesen, da er Wissenschaft und Kunst liebt, und auch sonst wolwollenden Sinnes ist. Da er aber diesen Posten natürlich nicht erhalten konnte, mag er sich mit einer schönen und unabhängigen Existenz begnügen, welche am Ende doch das Ziel der Weisen bleibt. Alertz kündigte mir im Januar seine Rückkehr nach Rom an, und daß seine Koffer gepackt neben ihm (in Genf) stehn, wo er nun den Wind abwarte, loszusegeln. Aber jetzt ist wieder seine Spur verloren, und schwerlich kehrt er noch zum Frühjahr zurück.In seinem Brief an Gregorovius vom 4. Januar 1863 hatte ihm Clemens August Alertz (1800–1866) geschrieben: „Jetzt aber ist mein Koffer bereits gepackt und ich stehe im Begriff von hier mit der Eisenbahn nach Marseille zu gehen, wo ich aber ein günstiges Wetter abwarten werde, bevor ich mich zum Einschiffen entschließen werde.“ (BSB München, NL Gregorovius, Gregoroviusiana 21) Wenige Tage später traf Alertz in Rom ein (siehe RT, 22.2.1863, S. 158). MarstallerDer in Rom ansässige Bankier und preußische Konsul Anton Marstaller (1815–1865). sehe ich oft im Hause Lindemann, wo uns norwegische junge Damen durch Gesang erheitern,Die Töchter des 1858 nach Rom gekommenen norwegischen Historikers Peter Andreas Munch (1810–1863). Als Munch 1861 als Reichsarchivar des Reichsarchivs nach Christiania zurückgekehrt war, blieb seine Familie in Rom zurück. Mit Natalie Charlotte Linaae (1812–1900) hatte er neben dem Sohn Edvard (1837–1882) die Töchter Johanne Nathalie (1836–1904), Sophie (1840–1918), Karen Juliane (Julie) (1843–1928) und Laura (1845–1913). und den geistreichen Grafen Gotze treffe ich noch Morgens auf dem Pincio.Der österreichische Diplomat und Sekretär beim Kapitel des Malteserordens in Rom Lucas Conte Gozze (1803–1871) war ein enger Freund von Gregorovius (siehe den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 21.1.1872 in Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile. Hrsg. von Herman von Petersdorff. Berlin 1894. S. 89–90 und Kurd von Schlözer: Römische Briefe. Stuttgart, Berlin 1913. S. 11–12).
Wie sehr Sie das erschreckende | 2vSchicksal des Herrn von CanitzKarl Friedrich Freiherr von Canitz und Dallwitz (1812–1894), 1859 bis 1862 preußischer Gesandter am Heiligen Stuhl, war Ende November 1862 einer Geisteskrankheit verfallen, erholte sich aber wieder (siehe RT, 20.11.1862, S. 155–156 und 28.4.1868, S. 244). Seinen Posten hatte der bisherige preußische Bundestagsgesandte von Usedom Guido Graf von Usdom (1805–1884) übernommen. Sie erschüttert haben mag, kann ich mir vorstellen. Sein Sträuben, selbst im Wahnsinn, seine Würde und Freiheit aufzugeben, hatte etwas tief Ergreifendes. Und was überhaupt ist alle Größe und Höhe der Verhältniße in der Welt, da wir Menschen auf einer so unsagbaren Grenze zwischen dem Glück und dem Verderben stehen. Das Gute siege immerdar!
Ich schließe den zu langen Brief, mein hochverehrter Herr, por no causar a Vuestra Merced enojo ŷ pesadumbre,Span.: Um Eurer Barmherzigkeit keine Ursache für Wut und Trauer zu geben – frei nach nach dem Roman „Don Quijote de la Mancha“ von Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616). mit den herzlichsten Wünschen für Ihr aller Wol. Möchten auch Sie, verehrte Frau von Thile, meiner noch wolwollend gedenken; oft sehe ich das schöne Bildniß von Trudely an, und denke dann, wie doch so schnell alles im Leben Erlebte zum Bild der Erinnerung wird.Ottilie von Thile (1816–1898) hatte ihm ein Porträt von Gertrud Küng von Gais gegeben, der Tochter des Kurarztes Johannes Küng von Gais (1800–1885) aus Heiden (siehe den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 4.9.1862). Ich grüße Hans bestens, und empfehle mich auf das Wärmste Herrn und Frau von Gräfe.
Mit Verehrung und Ergebenheit
Ihr
FGregorovius.
Ich habe die Kühnheit um die Besorgung des anliegenden Briefes nach einer bocca di posta durch Ihren Diener zu bitten.
Das arme, unselige Polen!Im Mai 1862 hatte Zar Alexander II. (1818–1881) seinen als liberal geltenden Bruder Großfürst Konstantin (1827–1892) zum Vizekönig ernannt und die Regierung Alexander Wielopolski (1803–1877) übertragen, der zur Jahreswende eine langjährige Wehrpflicht in der Armee des Zaren verfügt hatte, um die polnisch-nationale Freiheitsbewegung der jungen Aktivisten zu unterdrücken. Das im Warschauer Untergrund agierende Zentralkomitee der „Roten“ hatte am 22. Januar 1863 den Aufstand ausgerufen, der blutig niedergeschlagen wurde und in dessen Folge 400 Aufständische hingerichtet wurden; viele Tausende Polen wurden zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt oder in andere Teile Russlands deportiert.