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Gesamtdatenbank
der Korrespondenz
Hrsg. Angela Steinsiek
Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile in Berlin
Rom, 16. Februar 1863


DE
Von Thiles Wiedereintritt in den Staatsdienst hat ihm Alfred von Reumont berichtet. Thile billigt hoffentlich seine Gründe, das Angebot einer Professur in München von König Maximilian II. von Bayern ausgeschlagen zu haben. Seine „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872) will er in fünf Jahren abschließen. Der Tod des Senior-Verlegers Johann Georg Freiherr Cotta von Cottendorf bedeutet auch einen persönlichen Verlust für ihn. Der neue preußische Gesandte Adolf Freiherr von Willisen ist in Rom eingetroffen. Dass Alfred von Reumont diesen Posten nicht bekam, ermöglicht diesem eine unabhängige Existenz. Clemens August Alertz wird nicht so bald aus Genf zurückkehren. Anton Marstaller trifft er häufig bei Lindemann-Frommels, zusammen mit den Töchtern von Peter Andreas Munch. Mit Conte Lucas Gozze pflegt er weiter Umgang. Die plötzliche Geisteserkrankung des Gesandten Karl Freiherr von Canitz und Dallwitz erschüttert ihn. Ebenso das Schicksal der Polen nach dem Januaraufstand. Beiliegenden Brief bittet er zu besorgen.

EN
Alfred von Reumont told him about Thile’s re-entry into the civil service. Hopefully, Thile approves of his reasons for declining the offer of a professorship in Munich by King Maximilian II of Bavaria. He plans to complete his „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872) in five years. The death of the senior publisher Johann Georg Baron Cotta von Cottendorf is a personal loss for him. The new Prussian envoy Adolf Baron of Willisen has arrived in Rome. The fact that Alfred von Reumont did not get this post ensures that he can live independently. Clemens August Alertz will not be returning from Geneva soon. He often meets Anton Marstaller at Lindemann-Frommels’, together with the daughters of Peter Andreas Munch. He is still in contact with Count Lucas Gozze. The sudden mental illness of envoy Karl Baron of Canitz and Dallwitz is shocking to him. The same applies to the fate of the Poles after the January Uprising. He asks him to forward the enclosed letter.
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Rom, 16. Februar 63.

Mein hochverehrter Herr,

Gregorovius hatte Hermann von Thile gleich nach dessen Ankunft in Rom kennengelernt. Zu ihm, dessen große „Kenntnis in vielen Literaturen“ (RT, 17.9.1857, S. 68) er bewunderte, und zu seiner Familie entwickelte sich schnell einen freundschaftlich-familiäres Verhältnis, das nach Thiles Weggang aus Rom brieflich und durch gelegentliche persönliche Begegnungen, wie gemeinsame Kuraufenthalte im schweizerischen Heiden, gepflegt wurde. Neben Christian Karl Josias von Bunsen (1791–1860) war es Thile, der Gregorovius 1860 beim Kultusministerium der preußischen Regierung ein Stipendium zur Fertigstellung seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ (1859–1872) vermittelte (siehe den Brief von Gregorovius an Hermann von Thile vom 9.8.1860). Als Thile ihm im Frühjahr 1866 mitteilte, dass diese Unterstützung um die Hälfte gekürzt werden würde, nahm Gregorovius ihm das persönlich übel (siehe RT, 8.4.1866, S. 207 und den Brief-Entwurf von Gregorovius an Thile vom 9.4.1866) und ihr Briefwechsel ruhte bis 1870, als er die Familie Thile zufällig in München wiedertraf (siehe RT, 24.9.1869, S. 265). Die rund 135 Briefe von Gregorovius an Thile und seine Frau Ottilie sind 1898 von den Erben nahezu vollständig an das GSA in Weimar gegeben worden (Erstdruck, zumeist gekürzt, in Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile. Hrsg. von Hermann von Petersdorff. Berlin 1894), während von Thiles nicht mehr nachweisbaren Gegenbriefen nur wenige späte Schreiben (1885–1889) von Johannes Hönig aus dem Besitz von Thiles Verwandten an entlegener Stelle herausgegeben wurden (1928 in Die Kultur. Wissenschaftliche Beilage der Schlesischen Volkszeitung). Demnach muss Gregorovius Thile mindestens diese Briefe vor seinem Tod zurückgegeben haben.

oftmals hat es mich getrieben, Ihnen in dem Neuen Jahr zu schreiben, und zu der vita nuova aufrichtig Glück zu wünschen, welche sie mit ihm selbst angetreten haben; wenn ich mir aber die Fülle Ihrer Geschäfte vorstellte, so stand ich immer wieder von meinem Vorhaben ab. Nun aber, da Sie in alter Freundlichkeit mich zum Schreiben ermuntern, wie mir das Raymundus a Peñafort eben mitteilte, thue ich es auch mit tausend Freuden, und wünsche Ihnen aus aufrichtigem Herzen zu einer hohen und großen Thätigkeit Glück, welche Ihnen zur inneren Befriedigung, und dem Vaterlande zur Förderung, unter so schwierigen Umständen, gereichen möge. Gerne würde ich, in der demütigen Gestalt eines Clienten aus Rom, stundenlang in Ihrem von Schwärmen der Menschheit erfüllten Vorzimmer warten, wenn ich dadurch die Freude haben könnte, Ihnen all dies persönlich zu wünschen.

Der römische Winter ist unterdeß mit seiner bekannten kalendarischen Folgerichtigkeit, und seiner horazischen Fugacität dahingegangen; | 1ver ward verschönert durch eine milde Geselligkeit mit reichem Anteil menschlicher Gefühle, und veredelt durch vorwärtsschreitende Arbeit. In meiner Geschichte der Stadt, diesem Ocean, den ein größerer conquistador hätte beschiffen sollen, als ich es bin, kam ich bereits in den guten Breitengrad, wo man das Cap de buena Esperanza von weitem erblickt, aber in die Häfen Indiens werde ich deshalb wol nicht einlaufen. Ich hoffe, daß Sie, mein verehrter Herr, die Gründe billigen, die mich stets abhalten werden, von Münchner Privatgnaden zu leben, und daß Sie mir selbst, nach Vollendung meiner Geschichte, die noch etwa 5 Jahre in Anspruch nehmen wird, es anwünschen werden, noch irgend wie in der Stille jener leichtergeschürzten Muse zu leben, die mir manchmal, in Nächten, vorwurfsvoll an dem westlichen Horizont meines Lebens erscheint.

Ich habe durch den Tod des Baron Cotta einen Verlust erfahren, der für mich das Ansehen einer Calamität hat; seit 10 Jahren stand ich mit ihm in Verkehr; er war mir persönlich wolwollend, und hatte eine aufrichtige Freude an meinem Werk; in ihm lebte noch die Tradition | 2rder großen Literatur-Epoche, deren kleine Epigonen wir sind – und, kurz und gut, hier ist auch in meinen Beziehungen eine Lücke entstanden, die mir sehr fühlbar bleiben wird.

Ich habe Ihnen aus Rom nicht viel zu melden. Der neue Minister Preußen’s ist angekommen, ein, wie es scheint, human gesinnter Mann, von erleuchtetem Geist. Herr von Reumont hatte diese Stelle erhofft als den Gipfel seiner Wünsche; in manchem Betracht wäre es für die hiesigen Deutschen von Förderung gewesen, da er Wissenschaft und Kunst liebt, und auch sonst wolwollenden Sinnes ist. Da er aber diesen Posten natürlich nicht erhalten konnte, mag er sich mit einer schönen und unabhängigen Existenz begnügen, welche am Ende doch das Ziel der Weisen bleibt. Alertz kündigte mir im Januar seine Rückkehr nach Rom an, und daß seine Koffer gepackt neben ihm (in Genf) stehn, wo er nun den Wind abwarte, loszusegeln. Aber jetzt ist wieder seine Spur verloren, und schwerlich kehrt er noch zum Frühjahr zurück. Marstaller sehe ich oft im Hause Lindemann, wo uns norwegische junge Damen durch Gesang erheitern, und den geistreichen Grafen Gotze treffe ich noch Morgens auf dem Pincio.

Wie sehr Sie das erschreckende | 2vSchicksal des Herrn von Canitz Sie erschüttert haben mag, kann ich mir vorstellen. Sein Sträuben, selbst im Wahnsinn, seine Würde und Freiheit aufzugeben, hatte etwas tief Ergreifendes. Und was überhaupt ist alle Größe und Höhe der Verhältniße in der Welt, da wir Menschen auf einer so unsagbaren Grenze zwischen dem Glück und dem Verderben stehen. Das Gute siege immerdar!

Ich schließe den zu langen Brief, mein hochverehrter Herr, por no causar a Vuestra Merced enojo ŷ pesadumbre, mit den herzlichsten Wünschen für Ihr aller Wol. Möchten auch Sie, verehrte Frau von Thile, meiner noch wolwollend gedenken; oft sehe ich das schöne Bildniß von Trudely an, und denke dann, wie doch so schnell alles im Leben Erlebte zum Bild der Erinnerung wird. Ich grüße Hans bestens, und empfehle mich auf das Wärmste Herrn und Frau von Gräfe.

Mit Verehrung und Ergebenheit
Ihr

FGregorovius.

Ich habe die Kühnheit um die Besorgung des anliegenden Briefes nach einer bocca di posta durch Ihren Diener zu bitten.

Das arme, unselige Polen!

Zitierhinweis: Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile in Berlin. Rom, 16. Februar 1863. In: Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition). Hrsg. von Angela Steinsiek. Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023. URL: https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000166